Was muss sich die Raupe im Kokon vornehmen, wenn sie fliegen will? Über machtkritische Transformationsprozesse in Kulturinstitutionen

von Kadir Özdemir

Sehr geehrte Alle, die heute hier sind, um Teil einer positiven Veränderung zu sein,

in einer Zeit, in der unsere Gesellschaft nicht zuletzt durch eine zunehmende Digitalisierung immer dynamischer und schneller wird, und gleichzeitig die Diskussionen über soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Differenz intensiver werden, ist es von entscheidender Bedeutung, dass Museen und kulturelle Institutionen ihre Türen weit öffnen und ergebnisoffen auf neue Nutzer*innengruppen zugehen. Doch wie können sie dies erreichen? Wie kann eine machtkritische Transformation in ihren einzelnen Schritten gelingen? Wie kann Outreach dabei eine entscheidende Rolle spielen? Kulturelle Einrichtungen haben ein wachsendes Interesse daran, Menschen einzuladen und einzubinden, die bisher nicht den Weg in ihre Einrichtungen gefunden haben. Aber wie kann eine echte Transformation jenseits von Marketinginteressen und kommerziellen Begierden aussehen?

Es beginnt mit einer kritischen Auseinandersetzung der eigenen Einrichtung, mit der Erweiterung des Verständnisses, was Kultur- und Erinnerungsarbeit ist.

Transformation bedeutet nicht lediglich eine Erweiterung sondern einen Wandel über tradierte Grenzen und Definitionen hinweg. Es erfordert eine kooperative und partizipative Arbeitsweise in alten und neuen Netzwerken, bewusste Veränderung, um neue emotionale Orte, neue Formate und neue Methoden zu erkunden. Bevor der Wandel beginnt, müssen Museen einen Blick auf ihre bestehende Selbstwahrnehmung, ihre bisher (selbst-)auferlegten Aufgaben und ihren gegenwärtigen Einfluss auf die Gesellschaft werfen. Traditionell wurden Museen als neutrale Hüter des kulturellen Erbes betrachtet. Diese Vorstellung ist, insbesondere in dekolonialen, feministischen, queeren und postmigrantischen Diskursen, zunehmend ins Wanken geraten. Museen formen Narrative, prägen Meinungen und tragen zur Bildung eines ästhetischen, moralischen und politischen Klimas bei, in dem bestimmte Perspektiven hervorgehoben und andere ausblendet werden. Museen sind also keine unparteiischen Orte der Aufbewahrung von Kunst und Geschichte. Im Gegenteil, sie waren und sind beeinflusst von (national-)politischen Einflüssen und wurden mehr als einmal zu Handlangern von politischen Extremen.

Museen, Galerien und weitere Kultureinrichtungen sind sich heute bewusster darüber, dass sie lebendige Institutionen sind, die sich ständig weiterentwickeln, um aktuellen Wissensbeständen und Diskursen, verschiedenen Generationen zwischen Generation Golf bis Gen Z und alles drüber und drunter, und auch für unterschiedliche sozioökonomische Lebensrealitäten relevant zu bleiben. Dafür müssen sie sich fragen, ob und wie weit sie die Bedürfnisse unterschiedlicher Communities erfüllen. Dabei kann sich die Einschätzung von der Notwendigkeit und Dringlichkeit von Transformation radikal ändern, je nach Selbstbetrachtung und Einordnung. Ist die Institution gesund? Ist sie kränkelnd? Physisch, finanziell, politisch? Ist Transformation eine Kür, die gesucht wird oder eine Kur gegen eine Lähmung in Anbetracht gesellschaftlicher Veränderungen und der eigenen kulturpolitischen Stagnation? Oder ist der Ruf nach Transformationsprozessen für die Institution gar ein Schreckgespenst des aktuellen Zeitgeistes? Um Himmels willen, wir sind eine etablierte Institution, wir können mit unserer Zeit etwas Besseres anfangen, brauchen nichts neues.

Transformation braucht Konsens, also eine Einwilligung zu einem Prozess der Eröffnung durch Veränderung. In diesem Sinne reden wir nicht über ein Marketingtool, nicht über ausgefallene Websites, spannende Audioguides, mehrsprachige Flyer oder didaktische Materialien. Der Prozess ist mehr als die Verkündung und Verbreitung einer Botschaft auf analogem oder digitalem Weg. Selbstverständlich kann der Einsatz digitaler Medien und innovativer Technologien dazu dienen, neue Zielgruppen unabhängig von ihrem Wohnort oder ihren Lebensumständen zu erreichen. Aber Transformation ist die Summe aller Einzelteile, die den Zweck haben, das Museum zu einem Ort der Vielfalt werden zu lassen – sowohl auf Seiten des Publikums wie der Kuratierenden und Künstler*innen. Der Prozess erfordert die Fähigkeit, die Bedürfnisse und Perspektiven von Menschen, die bisher so gut wie nie gezielt angesprochen wurden, anzuerkennen und wertzuschätzen.

Transformation auf gemeinwohlorientierter Basis ist kein einmaliges Programm oder eine Initiative: Es ist ein Zustand des stetigen Werdens, eine Veränderung, die angestoßen wird und sich erhält, um stetig versperrte Zugänge zu identifizieren und diese hinter sich zu lassen. Um diesen Wandel anzustoßen, können folgende Fragen einen Wegweiser bilden:

  1. Wie können Museen dazu beitragen, gesellschaftliche Diskurse über Gleichheit, Gerechtigkeit und Differenz zu gestalten und dabei eine gerechtere Teilhabe aktiv gestalten? Wie werden unterschiedliche Lebensumstände, insbesondere von marginalisierten Communities, mitgedacht? Wie wird gezeigt, dass ihre Stimmen wichtig sind? Wie werden Entscheidungen darüber getroffen, welche Geschichten erzählt werden und welche nicht? Wer ist in der Lage, an der Konzeption von Ausstellungen mitzuwirken – und wer nicht? Museen sind dabei nicht nur in einer gebenden Rolle – sie erhalten durch diese Partnerschaften ihrerseits neue Ressourcen, vielfältige Expertisen, Ideen und Impulse.
  2. Wie können Museen sicherstellen, dass sie ethisch und sozial verantwortlich handeln? Und das über tolle Konzeptionspapiere hinaus? Wie transparent ist die Einrichtung gegenüber den eigenen Positionen, den tatsächlich gelebten Praktiken hinter geschlossenen Türen? Vermeintlich neutrale Kultureinrichtungen, die vorgeblich gar keine Position beziehen, täuschen die Öffentlichkeit. Ebenso, wenn immer wieder Scheindebatten auf reiner Veranstaltungsebene geführt werden, um den Stillstand und Rückfall gegenüber den gesellschaftlichen Realitäten zu verschleiern. Verliert die Institution nicht an Glaubwürdigkeit, wenn sie vorzieht, ihren – in den meisten Fällen durch öffentliche Gelder finanzierten – Auftrag exkludierend zu gestalten?
  3. Wie werden neue Beziehungen zu unterschiedlichen Communities aufgebaut? Museen können nicht alleine transformieren. Sie müssen mit anderen Institutionen, Künstler*innen, Aktivist*innen, bisher nicht bewusst adressierten Communities zusammenarbeiten, um einen echten Wandel zu bewirken. Das bedeutet letztlich gezielt bisher nicht vorhandene Communities anzusprechen und ihre Stimmen und Perspektiven in Ausstellungen, Programmen und in ein Leitbild zu integrieren. Dafür muss Vertrauen geschaffen werden. Gesellschaftliche Gruppen, die ausgegrenzt und falsch dargestellt werden, beurteilen die Integrität vieler kultureller Einrichtungen verständlicherweise mit Skepsis und Misstrauen. Wird nie wirklich Macht abgegeben, fühlen sich angefragte Communities selbst als bloße Objekte. Besteht ein Bewusstsein über die Privilegien der Institution gegenüber  unterfinanzierten Vereinsstrukturen vieler Communities? Insbesondere Migrant*innenselbstorganisationen sind häufig ehrenamtlich organisiert. Besteht eine Anerkennung von nicht-weißen Erinnerungs- und Wissensbeständen? Oder nerven Debatten über Privilegien und schon bei dem Begriff kräuselt sich die Nase? Museen müssen sich darüber im Klaren sein, dass sie nicht neutral sind, sondern aktiv in gesellschaftliche Debatten eingreifen können und sollten. Sie sollten bereit sein, Position zu beziehen, wenn es um Fragen der sozialen Gerechtigkeit geht, auch wenn dies Kontroversen mit sich bringt.
  4. Wie schaffe ich Räume für Flexibilität und Experimentierfreude? Transformation erfordert Mut zur Veränderung. Museen müssen bereit sein, ausgetretene Pfade zu verlassen und neue Wege zu erkunden. Das bedeutet, dass sie auch Fehler machen dürfen und aus ihnen lernen müssen. Nur durch Experimente können sie herausfinden, was funktioniert und was nicht. Dabei müssen diese Experimente eine ethische Grundlage haben. Sie sollten effektive und langfristige Veränderungen anstoßen und nicht in kurzlebigen Projekten verpuffen.
  5. Wie werden Querschnittsthemen und intersektionale Ansätze aufgegriffen? Muss nur das Schwule Museum queere Themen aufgreifen oder können es alle Museen?
  6. Wie schaffen Institution marginalisierte Bevölkerungsgruppen in der Institution selbst abzubilden? Wer wird eingestellt, was tuen Einrichtungen aktiv, um auch auf Personalebene die Vielfalt der Gesellschaft abzubilden? Welche Bevölkerungsgruppen werden in der Institution leichter akzeptiert und zu welchen besteht (bislang) die größte Distanz? Wird darüber ein Unrechtsbewusstsein gefühlt, thematisiert? Oder wird diese Frage als unerhört empfunden?
  7. Und eine philosophische wie ganz praktische Überlegung: Was muss die Raupe bereit sein loszulassen, bevor sie im neuen Gewand in die Lüfte abhebt? Woran klammert sie mit aller Kraft, während gleichzeitig Transformation angestrebt wird?

Trotz all der Notwendigkeit und der Potenziale von institutioneller Transformation gibt es Ängste und Hindernisse, denen sich viele Leitungen und Teams in Institutionen gegenübersehen. Diese sind nachvollziehbar, aber dürfen das Handeln nicht bestimmen.

  • Angst vor Verlust von Tradition und Identität: Transformation bedeutet nicht, unsere Wurzeln zu vergessen, sondern sie neu zu interpretieren und für die Zukunft zu öffnen.
  • Finanzielle Bedenken: Transformation erfordert oft finanzielle und personelle Investitionen.
  • Widerstand innerhalb der Organisation: Veränderung kann auf Widerstand stoßen. Es ist wichtig, eine Kultur des Wandels zu fördern und sicherzustellen, dass alle Mitarbeiter*innen eingebunden sind. Dabei sollten auch bürokratische Vorgänge kritisch geprüft werden. Bürokratie ist nicht selten ein konservatives Machtinstrument.

Es ist wichtig, diese Ängste anzuerkennen und nicht lediglich bei performativer Selbstkritik hängen zu bleiben. Interne Blockaden können (teilweise mit externer Prozessbegleitung) überwunden werden. Es geht gar nicht darum, diesen Prozess ohne Ängste, Zweifel oder auch Fehler zu gestalten, sondern darum, trotz dessen  ins Handeln zu kommen, die eigene Rolle als gesellschaftliche Akteure anzuerkennen und sich aktiv für eine gerechtere und inklusivere Welt einzusetzen. Museen haben die einzigartige Position, sowohl historische Kontexte interpretieren als auch ästhetische und emotionale Erfahrungen vermitteln zu können. In dieser Funktion sind sie prädestiniert, einen bedeutenden Beitrag zu leisten, um Diskriminierung zu bekämpfen und das Bewusstsein für soziale Ungerechtigkeiten zu schärfen. Insbesondere in einer Zeit, in der Rechtspopulismus und Menschenfeindlichkeit in der Gesellschaft längst Fuß gefasst hat, müssen Museen mutig sein und sich Partnerschaften und Unterstützende organisieren.

Transformation auf dem Papier kann von vielen Solls und Müsstes begleitet sein. In der Praxis aber kann sich jedes einzelne Vorhaben als schwere Aufgabe erweisen. Und dennoch lohnt sich der Weg, um neue Impulse zu gewinnen, als Institution lebendig, dynamisch und nicht zuletzt gesellschaftlich gerecht zu bleiben. Museen  spiegeln die Gesellschaft wider UND gestalten sie aktiv mit. Und als letztes: Nichts ändert sich von Außen und nichts ändert sich in der Zukunft. Time is now.

Vielen Dank.