[02.05.2023] Hiroshima

Es gibt vieles, das ich über Hiroshima erzählen könnte.

Ich könnte über die Karpfenzucht schreiben (Hiroshima ist weltweit eines der wichtigsten Städte für Koi-Züchter*innen), über die in Landschaft gegossene Poesie des Shukkein Gartens, über die Ausstellungen des Hiroshima Art Museums von internationalem Format (neben vielen international bekannten japanischen Künstler*innen wie ASAI , KURODA, FUJISHIMA, KISHIDA, MAETA und HAYASHI finden sich DELACROIX, MILLET, BOUDIN, MANET, MONET, RENOIR, SISLEY, CÉZANNE, VAN GOGH, MATISSE, CHAGALL, PICASSO um nur einige Namen fallen zu lassen). Ich könnte über kulinarische Traditionen der Stadt (neben den berühmten Okonomiyaki warten auf Foodies unzählige Austerngerichte und leckere Zitronen-Udons) oder über die berühmten Töchter und Söhne der Stadt, wie etwa Issey Miyake. Ich könnte über die minimalistischen, skulpturhaften Designs Miyakes schreiben, die ihn zu einem der weltbekannten Modemacher machten, oder darüber, dass er als Siebenjähriger zur Schule radelte, als das US-Militär die Atombombe auf die Stadt abwarf.

Hiroshima.

Ich glaube kaum jemand in Deutschland hört den Namen dieser Stadt und denkt nicht im selben Atemzug an die Atombombe. Bevor ich nach Hiroshima kam, führte ich eine Umfrage über meine Social Media Kanäle durch. “Was fällt euch zu Hiroshima ein?“, war die leitende Frage. So unterschiedlich die gesellschaftliche Positionierung der Teilnehmenden war, so identisch fielen die Antworten aus. Die Websuche mit deutschen, englischen, spanischen und türkischen Stichwörter lieferte das gleiche Ergebnis. Hiroshimas und auch Nagasakis Wahrnehmung ist in der Gegenwart weiterhin mit dem Abwurf der Atomwaffen eng verbunden.

Zurück zu Issey Miyake. Die Mutter des Designers starb wenige Jahre nach dem Atombombenabwurf an den Folgen der radioaktiven Strahlung. Viele weitere seiner Familienmitglieder starben in den Jahren darauf an Krebs. Wenn man die Opferzahlen der Atombombe auf Hiroshima recherchiert, stößt man häufig auf 140.000. Die Zahl bezieht sich aber lediglich auf die Todeszahlen zwischen dem 6. August 1945 um 8:15 Uhr bis zum Ende des Jahres 1945. Die meisten davon starben unmittelbar durch die Detonationswelle der Bombe, die rund 80 % der Stadt zerstörte. Nur eine Sekunde nach der Detonation entstand ein Feuerball mit einem Radius von 22 Metern. Mit einer Oberflächentemperatur von bis zu 8000 Grad Celsius verbrannte er Menschen, Tiere, Pflanzenwelt in einem Umkreis von 3,5 Kilometern. Die Menschen, die außerhalb des Hypozentrums an den Folgen der radioaktiven Verstrahlung starben, sind mehr als lückenhaft erfasst. Allgemein ist die Definition, wer zu den Opfern der Atombombe zählt (japanisch Hibakusha) absolut willkürlich. Menschen, die außerhalb eines behördlich sehr eng gezogenen Rahmens von der radioaktiven Verstrahlung betroffen waren, werden nicht hinzugezählt.

Nach den Explosionen der Atombomben fiel ein schwarzer, ölig-klebriger Regen auf Hiroshima und Nagasaki nieder. Große, geschwärzte Wassermassen mit radioaktivem Material, die bei Kontakt mit der Haut Schmerzen auslösten, regneten weit über die behördlich festgelegten Zonen hinaus auf die Menschen hinab. Der schwarze Regen (kuroi ame) vergiftete Menschen, Tiere, verunreinigte die Wasserversorgung, sickerte in den Erdboden ein. Menschen, die in der Folgezeit Krebs und andere Folgekrankheiten bekamen, wurden nicht als Opfer der Atombombe anerkannt. Sie erhielten keine kostenlose medizinische Hilfe. Im Gegenteil, sie wurden von Menschen, die nichts mehr von der Bombe wissen wollten, als „faule Betrüger“ behandelt. Der Hannoveraner Fotograf Thomas Damm hat explizit zu dem Stigma der kuroi ame hibakusha eine großartige Arbeit erstellt, die weiterhin auf seiner Website zu sehen ist.

Der Krieg und insbesondere die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki haben viele Familien von heute auf morgen auseinandergerissen. Für die Hibakusha wurde der Aufbau neuer menschlicher Bindungen massiv erschwert durch die Ungewissheit über die Folgen und die Reichweite der radioaktiven Verletzungen ihrer Körper. Sie fanden nur schwer eine Arbeit oder Partnerschaften, der Staat leistete mangelhafte gesundheitliche Fürsorge. Stattdessen wurden sie vom US-Militär und US-Ärzt*innen bis 1975 angeschaut, fotografiert, vermessen. Die Opfer der Atombombe und die Weltöffentlichkeit gingen davon aus, dass die US-Amerikaner die Überlebenden behandeln würden, aber diese waren lediglich an den Kurz- und Langzeitfolgen der nuklearen Strahlung interessiert, ohne die Verletzungen der Menschen zu behandeln. Ab 1948 begann das japanische Gesundheitsministerium mit den US-Amerikanern zusammenzuarbeiten. Die Entschuldigung für den Umgang mit den Hibakusha kam von der japanischen Forschungsstiftung für Strahlenwirkung (RERF) erst im Jahr 2017: „Wir haben nicht daran gedacht, dass wir eine Beziehung zu unseren menschlichen Forschungsobjekten hätten aufbauen müssen“, sagte der Präsident der Forschungsstiftung.

Die Hibakushas tragen die Folgen des Atombombeneinsatzes der USA bis in die Gegenwart in ihrem Körper und ihrer Seele. Ihr Kampf um Anerkennung hat bis heute kein Ende. Sie erhalten nur Fürsorgeleistungen, wenn sie an elf festgelegten Krankheiten leiden, die sich wiederum eindeutig auf die radioaktive Verstrahlung zurückführen lassen müssen, was selten eindeutig gelingt. Wer die Atombomben außerhalb willkürlich festgelegter Gebiete überlebte, erhält keine Fürsorge, selbst dann nicht, wenn eindeutig die Folgen von radioaktiver Verstrahlung nachweisbar sind.

Miyake hatte Glück im Unglück. Er befand sich ausreichend weit weg vom Hypozentrum. Dennoch erlitt er eine Knochenmark-Erkrankung, aufgrund welcher er sein Leben lang hinkte und sich von seinem Traum, Tänzer zu werden, verabschieden musste. Interessant ist, dass Miyake über sein Leben nach dem Atombombenangriff und die Zeit der US-Militärbesatzung schwieg bis er 71 Jahre alt wurde. Was auch immer seine individuellen Gründe waren, viele andere Überlebende der Atombombe schwiegen ebenfalls. Sie befürchteten soziale Ächtung und Isolation. Andere, die gerade in den ersten Jahren sprechen wollten, durften es nicht. Zehn Jahre lang, hatte die US-Militärbesatzung den Überlebenden verboten, über ihre Verletzungen in der Öffentlichkeit zu sprechen. Zehn leere Jahre des Entsetzens. Die USA kontrollierte die Presse und zenzierte jegliche kritische Berichterstattung. Und später störte der Anblick der Hibakushas- als lebende Mahnmale – die Doktrin eines nach vorn gerichteten, aufstrebenden Landes, das so schnell wie möglich wirtschaftlich auf die Beine kommen wollte. Gleichzeitig baute die USA eine Militärstation nach der anderen in Japan auf. Heute sind in Japan mehr militärische Stützpunkte der USA als in irgendeinem anderen Land der US-Verbündeten weltweit.

Obwohl die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki global als eine einschneidende Kriegshandlung in die Weltgeschichte einging, hat es weder dazu geführt, dass sie danach nicht mehr eingesetzt werden (Tests von Atomwaffen ist ein verblendender Begriff, wenn die Bomben mit all ihren Umweltauswirkungen gezündet und damit auch eingesetzt wurden), noch dass ihre Herstellung und Besitz die Weltgemeinschaft nicht mehr bedroht.

Die USA setzte nach Hiroshima und Nagasaki nahtlos ihre Atomwaffenzündungen fort. Andere Staaten folgten. Der Besitz von Atomwaffen wurden zum Statussymbol, gingen einher mit dem Eintritt in einen exklusiven militaristischen Club, mit der Zurschaustellung von Überlegenheit und als tödliche Drohkulisse für alle, die dem eigenen Kurs in der globalen Gemeinschaft widersprechen. Nicht zuletzt ist die Atombombe ein profitables Geschäft, eine verworrene Begegnungsstätte im Schatten mit fließendem Wertesystem.

Issey Miyake ist am 05. August 2022 gestorben, ein Tag vor dem Jahrestag des Atomwaffenabwurfs. Auch die anderen Überlebenden der Atombombe sterben nach und nach. Wenn die letzte Person gestorben ist, darf ihre Geschichte nicht verloren gehen. Wir alle stehen in der Verantwortung für eine Zukunft ohne den Terror der Atomwaffen. Wir alle stehen in der Verantwortung zu einer Friedenserziehung an Schulen, an Universitäten, Zuhause, in unserer Nachbarschaft, in unserer Gesamtgesellschaft. Eine Welt ohne Atomwaffen ist eine große Aufgabe, für die wir lokal, regional, global viele Verbündete brauchen. Den Anfang machen wir mit uns selbst.